200 Jahre Brailleschrift - unser Brief an Louis Braille
Lieber Louis,
heute stehen wir in einer Zeit, die du dir wohl kaum hättest vorstellen können. Maschinen lesen uns Texte laut vor, als wären es echte Stimmen; sie beschreiben Gemälde, Fotografien und Diagramme so, dass auch wir Blinden sie „sehen“ können. Künstliche Intelligenz vermag aus Stichworten Bilder zu generieren und in wenigen Augenblicken in Worte zu fassen, was auf einem Foto zu erkennen ist. Doch so faszinierend all diese Technologien sind – deine Erfindung bleibt nach wie vor der Dreh- und Angelpunkt für Millionen von Menschen weltweit, die blind oder sehbehindert leben. Ohne dich und deine Schrift wären all die modernen Hilfsmittel undenkbar.
Die erhabenen Punkte auf Papier haben inzwischen Gesellschaft bekommen: Es gibt elektronische Braillezeilen, die Buchstabe für Buchstabe wechselnde Punktschrift anzeigen; Smartphones auf deren Display Braillezeichen eingegeben werden können; Drucker, die tastbare Abbildungen auf Papier bringen. Trotz all dieser digitalen Wunder basiert alles auf deinem genialen Prinzip: Mit nur wenigen Punkten lassen sich unendlich viele Gedanken, Gefühle und Kenntnisse vermitteln. Und tatsächlich nutzen Millionen Menschen in aller Welt täglich deine Brailleschrift – in Schulheften, in Lehrbüchern, auf Medikamentenpackungen, an Aufzugknöpfen, auf Speisekarten. Ob analog oder digital, ob auf Papier oder Display – deine sechs Punkte sind allgegenwärtig und öffnen uns Türen zum Lesen und Lernen.
Dabei fing alles ganz bescheiden an. Du wurdest am 4. Januar 1809 in dem kleinen Dorf Coupvray in Frankreich geboren. Mit drei Jahren hattest du einen folgenschweren Unfall in der Sattlerwerkstatt deines Vaters: Eine spitze Ahle verletzte dein Auge – eine Entzündung griff schließlich auch auf das andere Auge über, und mit fünf Jahren warst du vollständig erblindet. Doch deine Neugier und dein Lerneifer waren ungebrochen. Du wolltest nicht akzeptieren, dass blinde Menschen nur durch Vorlesen Zugang zu Büchern haben sollten. Mit zehn Jahren kamst du an die königliche Blindenschule in Paris, wo man damals mit schweren Prägeschriften experimentierte. Du lerntest dort zunächst die von Valentin Haüy entwickelte Reliefschrift kennen – tastbare Klarschriftbuchstaben –, aber diese erwies sich als unpraktisch. Später begegnetest du der militärischen „Nachtschrift“ eines Artilleriehauptmanns namens Charles Barbier. Dieses Punkt-System war kompliziert und eigentlich für Soldaten gedacht, doch es pflanzte eine Idee in deinen Kopf: Wenn man Informationen mit Punkten darstellen kann, müsste man daraus ein einfacheres Alphabet für Blinde formen können.
Gesagt, getan: Mit unglaublichen 15 Jahren (im Jahr 1824) entwarfst du aus Barbiers System ein eigenes Punktschriftsystem. Du hast die 12 Punkte der Nachtschrift auf sechs Punkte pro Zeichen vereinfacht und brauchtest fortan nur noch zwei Fingerbreiten Platz für ein Zeichen – eine geniale Leistung. Bis 1825 hattest du die endgültige Version fertiggestellt: ein Raster aus 6 fühlbaren Punkten, mit dem alle Buchstaben, Zahlen, Noten und sogar mathematische Zeichen dargestellt werden können. Diese Innovation ermöglichte es blinden Menschen erstmals, schnell und effizient zu lesen und zu schreiben – eine echte Revolution in Bildung und Kommunikation. Du selbst hast die Tauglichkeit deiner Schrift bewiesen, indem du Texte – sogar Musiknoten – in Braille übertrugst und fließend vortrugst. 1829 erschien dann als Krönung deiner Arbeit das erste Buch in Brailleschrift, dein Lehrbuch „Verfahren, mittels Punkten zu schreiben“, mit dem du deine Punktalphabet der Welt vorstelltest. Niemand ahnte damals, dass dieses unscheinbare Buch der Auftakt zu einer weltweiten Revolution der Schrift sein würde.
Dennoch stieß deine Brailleschrift anfangs auf viel Skepsis. Obwohl die Punktzeichen leicht erlernbar und effizient waren, setzten sie sich zunächst nur zögerlich durch. Konservative Lehrer wollten lieber an den alten Reliefschriften festhalten. Erst 1850 – ein Vierteljahrhundert nach deiner Erfindung – wurde deine Punktschrift in Frankreich offiziell im Unterricht eingeführt. Den großen Erfolg deiner Schrift hast du selbst leider nicht mehr vollständig miterlebt. Du starbst am 6. Januar 1852 im Alter von nur 43 Jahren an Tuberkulose. Zu diesem Zeitpunkt war deine Schrift zwar an deiner Pariser Schule bekannt, doch eine breite internationale Anerkennung stand noch aus.
Doch, lieber Louis, schon kurz nach deinem Tod begann der Siegeszug deiner Brailleschrift um die Welt. 1854 machte Frankreich Braille zur offiziellen Blinden-Schrift, und 1878 erklärten Vertreter aus vielen Ländern auf einem Blindenkongress deine sechs Punkte zum internationalen Standard. In den folgenden Jahren wurde Braille in nahezu allen Ländern übernommen. In den deutschsprachigen Ländern dauerte es bis 1879, ehe Brailleschrift auch hier verbindlich an allen Blindenschulen gelehrt wurde. In Österreich hatte der Blindenpädagoge Johann Wilhelm Klein zunächst gezögert – er fand deine Punkt-Schrift zu wenig an die Schwarzschrift angelehnt und bevorzugte seine eigene Stachelschrift. Doch letztlich konnte sich dein System auch hier durchsetzen und die veralteten Methoden ablösen. So wurde auch für blinde Menschen in Wien und ganz Österreich der Weg zum geschriebenen Wort frei. (Übrigens trägt heute der Sitz unseres Blinden- und Sehbehindertenverbandes in Wien stolz deinen Namen – das Louis-Braille-Haus.) Innerhalb weniger Jahrzehnte nach deinem Tod war deine Erfindung in nahezu allen Kulturen und Sprachen dieser Welt angekommen. Wo zuvor Blindheit Bildungs- und Informationsarmut bedeutete, konnten nun Kinder und Erwachsene selbst Bücher lesen und schreiben. Deine sechs Punkte eröffneten ihnen die Welt der Literatur, Wissenschaft und Musik.
Im Laufe der Zeit hat sich auch die Technik des Brailleschreibens enorm weiterentwickelt. Zunächst schrieben Blinde mühsam mit Griffel und Schablone jeden Buchstaben punktweise auf dickes Papier – spiegelverkehrt von rechts nach links, damit die Punkte nach dem Umdrehen richtig zu lesen waren. Dieses „Langschriften“ war anstrengend und verlangte viel Konzentration. Doch dann, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, gelang ein Durchbruch: Erfinder konzipierten Maschinen, um Braille schneller zu schreiben. 1892 wurde in den USA der erste Braille-Schreibapparat vorgestellt, der Hall-Braillewriter, erfunden vom Pädagogen Frank H. Hall. Kurz darauf entwickelte der deutsche Blindenlehrer Oskar Picht ein zuverlässiges Brailleschreibgerät; am 6. Mai 1901 erhielt er darauf das Patent. Deine Schrift konnte nun mit einer Schreibmaschine getippt werden – plötzlich war es möglich, schneller zu schreiben als zu sprechen. Bis 1932 wurden über 2000 Stück von Pichts Maschinen verkauft, und sie brachten unzähligen Menschen eine neue Leichtigkeit beim Schreiben ihrer Gedanken auf Papier. Im 20. Jahrhundert kamen dann Brailledruckereien hinzu, die Bücher in Blindenschrift in größeren Auflagen prägen konnten. Und schließlich hielt Braille auch Einzug in die Elektronik: 1974 erfand Klaus-Peter Schönherr in Deutschland die erste elektronische Braillezeile, ein Ausgabegerät, das mittels beweglicher Stifte die Braillepunkte dynamisch darstellt. Mit solchen Brailledisplays können wir Blinden heute Computer, Smartphones und das Internet nutzen, indem wir die Bildschirminhalte als Braille lesen. Vom einfachen Holzgriffel bis zur digital vernetzten Braillezeile – all das beruht auf deiner Idee und erweitert sie. Deine Schrift hat sich stets als anpassungsfähig erwiesen und begleitet uns Blinde nun schon seit 200 Jahren durch alle technischen Wandel.
Darüber hinaus hat deine Brailleschrift eine Symbolkraft, die weit über das Praktische hinausgeht. Sie steht für Teilhabe, für das Recht auf Bildung und auf unabhängige Persönlichkeitsentfaltung. In einer Welt, die oft vom Sehen dominiert wird, ist jede Braille-Bibliothek, jedes tastbare Beschriftungsschild ein Zeichen dafür, dass wir Blinden gleichberechtigt Zugang zur Kultur und Information verdienen. Deine sechs Punkte sind zum Inbegriff der Inklusion geworden – man findet sie auf Geldautomaten, an Medikamentenschachteln und in Wahllokalen, wo sie signalisieren: „Auch wir sind da, auch wir lesen mit.“
Lieber Louis, wir möchten dir von Herzen danken – für deinen unerschütterlichen Glauben daran, dass alle Menschen lesen und schreiben können sollen, unabhängig von ihrer Sehfähigkeit. Du hast mit 15 Jahren einen Funken gezündet, der bis heute hell brennt. Dein Erbe lebt fort in jedem Wort, das ertastet wird, in jedem Buch, das in Blindenschrift gedruckt wird, und in jedem digitalen Gerät, das dank deiner Idee auch uns Blinden Zugang zur Welt verschafft. Du hast uns die Schrift gegeben, die uns verbindet – mit unseren Mitmenschen und mit dem gesammelten Wissen der Menschheit. Dafür sind wir dir ewig dankbar.
In tiefer Dankbarkeit und Bewunderung,
Martin
P.S.: Vielleicht würdest du staunen über all die damals unvorstellbaren Möglichkeiten, die wir heute nutzen – und gleichzeitig erkennen, dass dein Grundgedanke zeitlos ist: Wissen gehört allen, in jeder Schrift und in jedem Format. Danke, Louis.